Freitag, 29. Januar 2016

Abwehrmechanismus: Kompensation

Kompensation (gutes bis mittleres Integrationsniveau)


Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Unter Kompensation versteht man allgemein einen Ausgleich oder eine Entschädigung für einen Nachteil, den man erlitten hat, oder für einen berechtigten Anspruch, der nicht erfüllt werden konnte. So gesehen ist Kompensation ein wichtiges Regulativ in zwischenmenschlichen Beziehungen. Man kann sich auch selbst für etwas entschädigen, was man erlitten oder nicht bekommen hat. Beispielsweise kann man sich nach einem ungewöhnlich harten Arbeitstag, der einem zugesetzt hat, mit einem heißen Bad, einem guten Essen, einem guten Tropfen oder mit einer Massage verwöhnen. Auch Urlaub ist eine in unserer Kultur institutionalisierte Form der Kompensation für die Entbehrungen und den Lustverzicht im Arbeitsleben. Ein geliebtes Haustier kann den Mangel an sozialen Kontakten kompensieren. Alfred Adler hatte v. a. den Ausgleich körperlicher oder psychischer Mängel durch hohe Leistungen auf anderen Gebieten im Auge. Er sprach davon, dass angeborene "Organminderwertigkeiten" durch "Mehrleistungen der Psyche" kompensiert oder sogar überkompensiert werden könnten: "Der stotternde Knabe Demosthenes wird zum größten Redner Griechenlands."[6]

Funktion: Als Abwehrmechanismus dient Kompensation neben dem Ausgleich von Schwächen dazu, die Unerfülltheit eines zentralen Bedürfnisses, Antriebs oder Impulses (z. B. nach Bindung, Wertschätzung, Dazugehörigkeit, Lustbefriedigung, Selbstwirksamkeit, Kontrolle, Orientierung, Selbstrealisierung oder Sinn) auszugleichen. Jede Art von Maßlosigkeit, sei es beim Essen oder Trinken, bei der Arbeit oder beim gesellschaftlichen Engagement, beim Sport oder in der Religionsausübung, ist verdächtig, etwas Wichtiges zu ersetzen, was an seiner Erfüllung gehindert ist. Der Mangel, die Schwäche, die Hinderung oder Hemmung können bewusst und nachvollziehbar in objektiven äußeren Umständen begründet sein. Sie können aber auch von innen kommen und unbewusst sein, z. B. Schuldgefühle, alte Traumatisierungen oder Mangelerfahrungen. Kompensatorische Verhaltensweisen (z. B. Extremsportarten oder Promiskuität) oder kompensatorische Vorstellungen (z. B. Omnipotenzfantasien, siehe dort) können erlittene seelische Verletzungen oder ein mangelndes Selbstwertgefühl wenigstens vorübergehend erträglicher machen. Ein Gefühl von innerer Leere kann durch die andauernde Suche nach Bewunderung kompensiert werden.

Dysfunktionalität: Oft wird die Kompensation erst dysfunktional, wenn sie nicht mehr gelingt, z. B. weil altersbedingt die kompensatorischen Leistungen nicht mehr erbracht werden können. Kompensation kann aber auch per se dysfunktional sein; ihre Dysfunktionalität ist am Ausmaß der Selbstschädigung durch das kompensatorische (z. B. Ess-, Trink- oder Arbeits-) Verhalten ablesbar. Je selbstschädigender ein kompensatorisches Verhalten ist, desto eher ist anzunehmen, dass die zugrunde liegenden Bedürfnisse (z. B. nach narzisstischer Bestätigung) äußerst dringend sind und die innere Dynamik von Antrieb und Hemmung (z. B. alte Erfahrungen von Beschämung und die Angst vor erneuter Beschämung) unbewusst ist. Nicht selten ist ein selbstschädigendes Verhalten Ausdruck eines strukturellen Defizits (z. B. der Affekt- und Impulssteuerung), oder es hat die Funktion, ein strukturelles Defizit (z. B. der Selbstwertregulierung oder der Bindungsfähigkeit) zu kompensieren. Meistens spielen die unbewusste Antriebs- und Hemmungsdynamik und die unbewussten strukturellen Defizite zusammen.

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